Struktur S

Annäherung an eine Serie von Hörstücken im öffentlichen Raum

Stephen Craig, The Two Cities, 1999, Siebdruck auf Papier (Ausschnitt) 

An dieser Stelle werden in unregelmäßigen Abständen Texte eingestellt, die aus der fortlaufenden Recherche entstehen. Aus einer losen Sammlung von Zwischenergebnissen und Reflexionen soll sich der Grundstock eines Aufführungstextes entwickeln.

Struktur S

Annäherung an eine Serie von Hörstücken im öffentlichen Raum

Stephen Craig, The Two Cities, 1999, Siebdruck auf Papier (Ausschnitt) 

An dieser Stelle werden in unregelmäßigen Abständen Texte eingestellt, die aus der fortlaufenden Recherche entstehen. Aus einer losen Sammlung von Zwischenergebnissen und Reflexionen soll sich der Grundstock eines Aufführungstextes entwickeln.

Ein Anfang

In meinem Arbeitszimmer hängt eine Lithografie des Künstlers Stephen Craig mit dem Titel „The Two Cities“. Sie zeigt die Grundrisse zweier schematisierter Stadtentwürfe. Der linke Entwurf wirkt klar und übersichtlich, der rechte dagegen wirkt wuchtig und ungeregelt.

Nein, der rechte Entwurf erscheint im Gegenteil überregelt von kontroversen Anforderungen und Verordnungen. Muster pflanzen sich selbsttätig fort, Strukturen schieben sich ineinander in einem taubblinden Verdrängungskampf. An die Stelle von Gestaltung ist Regulierung getreten. Regulierung ist nicht weitsichtig genug, um Gestaltung zu ersetzen, aber sie entwickelt eine unwägbare Eigendynamik, die sich etwa in wuchernden Strukturen niederschlägt.

Unsterbliches hat den Sterblichen auf der getreidespendenden Erde, musst du wissen, für jede Sache eine Vielzahl von Ordnungen auferlegt. (Abwandlung einer Textstelle aus der Odyssee)

Craigs Arbeit bezieht sich auf einen Fresken-Zyklus aus dem 14. Jahrhundert im Palazzo Pubblico in Siena. Als tägliche Mahnung an die im Saal der Neun tagende Regierung zeigt Ambrogio Lorenzetti teils allegorisch, teils realistisch, wie sich eine gute und eine schlechte Regierung jeweils auf Stadt und Land auswirken.

Indem Craig Lorenzettis bildkünstlerische Überlegungen zur Politik seinerseits in Form von Architekturentwürfen reflektiert, wird Architektur als mögliche Ursache sowie als mögliche Lösung für gesellschaftliche und politische Probleme benannt.

Der „Vater der Stadtplanung“ Patrick Geddes (1854 – 1932) war wie der Soziologe John Ruskin der Ansicht, soziale Prozesse und räumliche Strukturen seien eng miteinander verbunden. Er hielt es deshalb auch für möglich, durch gezielte Gestaltung der räumlichen Umwelt soziale Prozesse zu beeinflussen oder zu initiieren. (…) Geddes Ziel war die Schaffung eines städtischen Umfeldes, das optimal auf die Bedürfnisse des Menschen eingerichtet wäre und Körper und Geist in Einklang brächte. (Wikipedia Patrick Geddes)

Craigs erster Entwurf lässt Raum für mögliche Bewegung, die des Windes etwa, den der Windturm im Zentrum zu erwarten scheint, oder in einer Spiralform, die von der Mitte nach außen schwingt. Dieser Entwurf erscheint bewusst gestaltet im Hinblick auf gesellschaftliche Bedürfnisse und Entwicklungen. Der zweite Entwurf hingegen erscheint mehr oder weniger sich selbst überlassen, ohne dass er deswegen zum Stillstand käme. Aber was ist dieses selbst? Und ist es gut oder schlecht, sich ihm zu überlassen? Ist es vielleicht Regierung in dem umfassenden Sinn, den Foucault formuliert?

Unter Regierung verstehe ich die Gesamtheit der Institutionen und Praktiken, mittels derer man die Menschen lenkt, von der Verwaltung bis zur Erziehung. Diese Gesamtheit der Techniken, Methoden, welche die Lenkung der Menschen untereinander gewährleistet (zitiert nach: Bröckling, Lemke (Hrsg.), Gouvernementalität der Gegenwart; Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000)

Was Architekturen, was gestaltete Strukturen im weitesten Sinne, was auch Landschaften, auf die eine oder andere Art allesamt menschengemacht, in diesem kaum überschaubaren Gemenge aus Einflussnahmen bewirken, ist Gegenstand dieser Untersuchung.

Kapitel 1

Struktur S ist angelegt als Serie von Hörstücken zu spezifischen Orten, die an diesen Orten zu erleben sein werden. Den Anfang macht der NEUBAU DES SITZUNGSGEBÄUDES FÜR DAS OBERLANDESGERICHT STUTTGART IN STUTTGART-STAMMHEIM.

Der Bau ersetzt das 1975 in Betrieb genommene sogenannte Mehrzweckgebäude, das vor allem durch die Prozesse gegen die RAF bundesweit bekannt wurde, heißt es auf der Internetseite des OLG Stuttgart.

Aus offiziellen Quellen lassen sich folgende Projektdaten zusammentragen:

Bauherr: Land Baden-Württemberg, vertreten durch Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Amt Ludwigsburg
Nutzer: Oberlandesgericht Stuttgart
Projektleitung: Vermögen und Bau Baden-Württemberg, Amt Ludwigsburg
Planung und Bauleitung: Thomas Müller Ivan Reimann Gesellschaft von Architekten mbH, Berlin

Chronologie:
Vorplanung und Entwurfsplanung: 2009 – 2011 (Amt Stuttgart)
Entwurfs- und Genehmigungsplanung: 2013 – 2014 (Amt Ludwigsburg)
Ausführungsplanung: Oktober 2014
Vorabmaßnahmen: Mai 2015
Fertigstellung: März 2019

Gebäudedaten:
Nutzungsfläche gesamt: 2.975 m2
Bruttogeschossfläche: 6.160 m2
Bruttorauminhalt: 28.915 m3
Plätze Besucher und Presse Sitzungssaal 1: 90, davon 2 barrierefrei
Plätze Besucher und Presse Sitzungssaal 2: 60, davon 2 barrierefrei

Gesamtbaukosten: 29.000.000 Euro

Adresse: Prozessgebäude Stammheim, Asperger Straße 47, 70439 Stuttgart

Regierung

…der Ruhm irgendeines untadeligen Königs, welcher in Gottesfurcht unter zahlreichen und tapferen Männern herrscht und gute Rechtsentscheidungen aufrechterhält und dem die schwarze Erde Weizen und Gerste trägt, die Bäume schwer sind vom Obst, die Schafe unablässig werfen, das Meer Fische liefert, eine Folge seiner guten Regierung, so daß die Männer des Volkes unter ihm Glück und Erfolg haben. (Odyssee, In Prosa übertragen von Gerhard Scheibner; Berlin und Weimar: Aufbau, 1986)

Vor allen Füllhorn-Wünschen ist (eine) gute Regierung demnach diejenige, welche gute Rechtsentscheidungen aufrechterhält, sie also durchsetzt und sich diesen Entscheidungen selbst unterwirft. Die Odyssee beschreibt Rechtsverbindlichkeit als Voraussetzung von Frieden als Voraussetzung von Wohlstand als Voraussetzung von persönlichem Glück und Erfolg. Nicht beschreibt sie die Verselbstständigung von Normen oder das kaum vorhersehbare Eigenleben von Verwaltungsakten. Wuchernde Exzesse bescheren aber der Krieg und die Abwesenheit von Regierung sowie die Rache in Selbstjustiz. Nur ein Vertrag zwischen rechtsbrüchigem Herrscher und Volk kann ein ziviles Zusammenleben im homerischen Ithaka wiederherstellen.

(Herrscher ist der lange abwesende Odysseus in dieser Gesellschaft, weil er die zentralen Techniken – Schiffbau, Ackerbau, Töten – am besten beherrscht; vielleicht auch, weil die Menge diejenigen liebt, die sich über Regeln hinwegsetzen und die Gesetze brechen, die Schurken, die Verführer, und ihnen Heldenlieder singt.)

Grenzziehung

Was das Stammheimer Gerichtsgebäude vor anderen auszeichnet und was entsprechend im Fokus der Planungen stand, ist Sicherheit.

Heute sieht sich die Baden-Württembergische Justiz insbesondere durch den islamistisch motivierten Terrorismus, aber auch durch links- und rechtsextremistische Gruppierungen und die organisierte Kriminalität vor zunehmende Herausforderungen gestellt. Die starke Staatsschutzzuständigkeit des Oberlandesgerichts Stuttgart sowie die zunehmende Befassung der Landgerichte mit Terrorismusverfahren und Verfahren gegen die Bandenkriminalität setzen voraus, dass die Justiz personell und sachlich hervorragend ausgestattet ist und dabei insbesondere auch in sicheren Räumen Recht sprechen kann. (aus dem Grußwort des damaligen Ministers der Justiz und für Europa des Landes Baden-Württemberg, Guido Wolf; Baubroschüre des Ministeriums für Finanzen BW 2019)

Erreicht werden soll die sichere Durchführung der heutigen sicherheitsrelevanten Gerichtsprozesse wesentlich durch die physische Trennung verschiedener Gruppen von Prozessbeteiligten sowie der Öffentlichkeit im Gebäude insgesamt und in den zwei Gerichtssälen.

Bestimmend bei der Gebäudeplanung und bei der Umsetzung sicherheitsrelevanter Belange war die Aufteilung der Flächen in einen öffentlichen und einen nicht öffentlichen Bereich. Die Sicherheit im Gebäude für die unterschiedlichen Prozessbeteiligten hat oberste Priorität. (…) Die Anforderungen an die Sicherheit waren auch maßgebend für die Raumaufteilung und Raumanordnung sowie die Führung der Wege durch das Gebäude. (Baudirektorin Corinna Bosch, Baubroschüre)

Die Wegeführung durch das Gebäude sowie die Raumanordnung sind durch die komplexen Anforderungen des Prozessablaufes und die Sicherheitsvorgaben geprägt. (Architekt Thomas Müller, Baubroschüre)

Die Trennung beginnt mit drei verschiedenen Zugängen für Angeklagte, für alle anderen Prozessbeteiligten sowie für Pressevertreter:innen und Zuschauer:innen (Die Öffentlichkeit). Im Inneren des Gebäudes sind bestimmte Bereiche nur für Mitglieder bestimmter Gruppen zugänglich. Getrennte Wegesysteme, räumlich oder zeitlich, lassen die Gruppen erst im Saal aufeinandertreffen. Dort finden sie sich durch hohe Wände aus Sicherheitsglas getrennt.

Sind wir im gleichen Raum, nur weil die Wände aus Glas sind?

Vor dir sitzt ein fremder Mann auf Augenhöhe aber im Profil, der gemeinsam mit anderen angeklagt ist der Gründung, Rädelsführerschaft oder Mitgliedschaft in oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung mit dem Ziel, durch Anschläge auf Moscheen einen Bürgerkrieg anzuzetteln und die Regierung zu stürzen. Er ist sehr nah. Wäre die gläserne Wand nicht da, du könntest ihn an der Schulter berühren.

Zum Glück hörst du ihn nicht. Du würdest ihn nur hören, wenn er laut schreien oder das Mikrofon benutzten würde in einem Moment, in dem die Wachfrau an der Schaltstelle vorne vor der Richterbank sein Mikrofon auf die Lautsprecher im Saal freigibt, damit er eine Einlassung machen kann. Das tut er nicht. Er sitzt fast unbeteiligt da und blickt durch eine weitere Glaswand in den Teil des Gerichtssaals, in dem die anderen Prozessparteien ihre Arbeit machen, die ihn betrifft aber nicht zu berühren scheint.

Was du hörst sind Aufnahmen abgehörter Telefongespräche, die schwer verständlich sind, nicht nur weil die Sprecher verschiedene Dialekte sprechen. Welchem der Angeklagten welche Stimme gehört, kannst du nicht zuordnen. Das gilt auch für im Gerichtssaal anwesende Sprecher: Selten kannst du sehen, wer gerade spricht, da du die meisten Anwesenden nur von hinten siehst oder gar nicht, weil sie gerade von anderen verdeckt werden oder weil sich die mikrofonverstärkten Stimmen räumlich nicht orten lassen. Nur auf der Richterbank und manchmal bei den Anklagevertretern lassen sich von deinem Platz aus Sprechende zweifelsfrei erkennen; verstehen nur, wenn sie ihr Mikrofon auf die richtige Weise verwenden und den Wunsch haben, verstanden zu werden.

Zwischen dir und den anderen gibt es eine Grenze. Seid ihr im gleichen Raum, nur weil die Grenze aus Glas ist?

Jemand zieht eine Linie um ein Stück Land und sagt, das ist Mein. Übertritt die Grenze, und ich töte dich. Zieht einen Zaun, pflanzt eine Hecke, um Tiere zu halten oder abzuhalten. Hagedorn oder Weidengeflecht. Legt einen Garten an, umhegt mit Hagebutte. Ein Gehege, ein Hag. Ummauert ein Stück Wüste, bewässert es. Das muss geschützt werden vor Tier und Mensch. Umfriedet einen Wald, nennt ihn Hain und heilig. Den darfst du nicht betreten. Der Beginn der Zivilisation, der Sündenfall: Grenze, Besitz und Tabu.

Das Recht setzt Grenzen. Scheidet Mein und Dein, Falsch und Richtig. Markiert Unrecht und legt fest, was strafbar ist in welchem Maße. Das Gericht entscheidet zwischen Schuld und Unschuld, bestimmt den Grad der Schuld und legt das Strafmaß fest, unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen. Die Grenze ist hier zuhause.